Der Ozean am Ende der Straße: Familien und Helden

Was wäre ein Roman ohne eine großartige Großmutter? Ganz bestimmt kein Ozean am Ende der Straße! Nachdem der Vater des Erzählers bereits einiges an Diskussionsstoff geboten hat, schließen wir heute die restlichen Charaktere mit ein und machen sogar einen kleinen Abstecher in das Gebiet der Literaturwissenschaft.


Das Lieblingszitat von ♣ aus Der Ozean am Ende der Straße:
»Ich erzähle dir jetzt etwas Wichtiges. Erwachsene sehen im Inneren auch nicht wie Erwachsene aus. Äußerlich sind sie groß und gedankenlos, und sie wissen immer, was sie tun. Im Inneren sehen sie allerdings aus wie früher. Wie zu der Zeit, als sie in deinem Alter waren. In Wirklichkeit gibt es gar keine Erwachsenen. Nicht einen auf der ganzen weiten Welt.«
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Was mir an dem Buch besonders gefallen hat, ist die Hempstock-Familie: Mit ihr wird nämlich ein schönes Gegenstück zu der Familie des Protagonisten gezeigt: Bei seiner eigenen bekommt er verbrannten Toast zu essen, bleibt oft hungrig, wird angeschrien und sogar fast ertränkt. Zudem hat er keine Freunde und selbst seine Schwester behandelt ihn schlecht. Dagegen schmeckt ihm das Essen bei den Hempstocks ausgezeichnet, er bekommt reichlich davon und auch wenn er etwas falsch macht, wird er deswegen nicht angeschrien, sondern sie versuchen alle, das Problem zu lösen.

♣:
Apropos … die ganze Familienthematik bringt mich zu einer Frage, die mich am Anfang und Ende begleitet hat: Wessen Beerdigung wurde eigentlich ausgerichtet? Die des Vaters?

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Ich glaube schon. Die Mutter hatte keine Rolle, die wichtig genug war, und die Schwester wird im Epilog erwähnt, als wäre sie am Leben. Der Protagonist denkt auch ziemlich abschätzig darüber nach, dass ihm Halb-Bekannte Mitleid ausdrücken wollen, und ich glaube, dass seine Abneigung nicht nur den Bekannten gilt, sondern auch dem Toten.

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Es wird wahrscheinlich der Vater oder die Mutter sein, da ja die Schwester auch anwesend ist.

♣:
Das würde ja auch irgendwie Sinn machen, gerade auch wenn es der Vater wäre, weil er im Plot zentral verankert ist. Die Mutter ist dagegen ja eher eine passive Figur.

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Stimmt, und es würde auch erklären, warum er einen langen Flashback hat und so dringend Zeit für sich braucht. Da soll er traurig sein, dass ein Mensch, der ihn misshandelt hat, gestorben ist.

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Die Frage habe ich mir auch gestellt. Eure Interpretation ergibt durchaus Sinn! So vieles in der Geschichte hängt schließlich mit dem Vater zusammen.

♣:
Umso ironischer ist es eigentlich, dass Lettie aber so eine zentrale Rolle einnimmt. Könnte sie irgendwie eine Art Wunschverkörperung des Vaters sein? Ich meine, sie ist natürlich ein weiblicher Charakter, aber sie ist stark, mutig und weise. Sie agiert, wie der Junge sich eine Erwachsene eigentlich vorstellt. Es ist extrem abstrakt gedacht, aber das sind ja viele der Plotelemente.

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Ich hatte es eher so interpretiert, dass Lettie die perfekte Freundin ist, da er ja offenbar keine hat. Aber das bringt mich schon zum Nachdenken, immerhin wird zig Mal erwähnt, dass Lettie älter ist als der Prota. Ich würde deine These deswegen nicht verwerfen und lieber noch weiter forschen. Immerhin verteidigt und beschützt sie den Protagonisten ja ständig, was zu den elterlichen Pflichten gehört, die der Vater nicht erfüllt.

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Dass Letties Alter so oft erwähnt wird, ist mir auch aufgefallen. Ich habe es aber ganz simpel auch so wie  interpretiert, dass Lettie zeigt, wie wichtig Freundschaft und Vertrauen sind und wie sehr eine gute Freundschaft und ein Zufluchtsort helfen können, schwierigen Umständen zuhause zu entfliehen. Hiermit hätten wir noch ein weiteres zentrales Thema des Buchs.

♣:
Alternativ könnte man noch an eine Schwester denken, aber irgendwie fand ich das auch nicht ganz passend, weil seine Schwester dafür nicht intensiv genug thematisiert wird, als dass er sich eine neue wünschen würde. Aber auffällig war auch, dass Lettie sich ja quasi für den Jungen opfert und danach eben nicht mehr da ist. Und jetzt ist in der Gegenwart auch der Vater tot.

♠:
Also ich fand seine Schwester schon einen ziemlichen Kotzbrocken und ziemlich krass thematisiert, indem sie sich durch ihr Nichtstun auszeichnet. Lettie ist hingegen sehr aktiv, trifft Entscheidungen, packt das Problem an und blickt vor allem durch den Schleier.

♣:
Du würdest also eine Parallele zwischen seiner Schwester und Lettie sehen? Ich muss sagen, das ergibt auch Sinn, aber irgendwie fände ich das zu unterschwellig. Der Konflikt wegen der offenen Zimmertür ist zwar da, aber irgendwie trotzdem nicht sehr stark.

♠:
Das kann ein Nebenprodukt unserer Interpretationen sein, aber selbst wenn es nicht so ist, finde ich es spannend, darüber nachzudenken.

♣:
Besonders interessant ist dann ja auch die Frage, ob und inwiefern alle »phantastischen« Charaktere mit seiner Familie in Verbindung stehen. Da die Mutter kaum erwähnt wird, ist es ja auch irgendwie schwierig, Ginnie Hempstock als Ersatz zu lesen. Wiederum könnte Ursula eine Alliteration zum Opalschürfer darstellen, da auch ihm keine positive Konnotation zukommt..

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Möglicherweise nehmen die einzelnen Figuren auch nicht bestimmte Rollen ein oder ersetzen diese, sondern die Hempstock-Familie als Ganzes kompensiert die Missstände in der Familie des Protagonisten. Ich würde sagen, es gibt auch gar nicht »die« richtige Interpretation, im Gegenteil: Es ist schön, dass es so viele gibt und die Charaktere teilweise so vieles auf einmal verkörpern.

♠:
Denke ich auch.

♣:
Da hast du absolut Recht, . Interessant fand ich übrigens die Tatsache, dass der Junge eigentlich eher ein Spielball der Handlung zu sein scheint. Er handelt eigentlich nur wenig aktiv und meistens ist es ja eben Lettie, die ihn an die Hand nimmt und führt. Könnte man also sagen, dass er zwar der Protagonist, aber sie die Heldin der Geschichte ist? Diese Thematik besprechen wir gerade in meinem Germanistik-Seminar und diese Korrelation ist mir hier besonders aufgefallen. Der Protagonist ist dabei einfach derjenige, dem die Handlung folgt, während der Held eine Aktionsgröße ist. Und das trifft ja doch eher auf Lettie zu - was sagt ihr dazu?

♠:
Genau deswegen hatte ich weiter oben betont, dass Lettie gerne aktiv ist und die Entscheidungen fällt … für mich ist das ein Indiz dafür, dass sie eigentlich die Protagonistin ist. Vielleicht teilen sich Lettie und der Ich-Erzähler diese Rolle. Da wir letzteren aber die ganze Zeit als »Protagonisten« bezeichnen, ist da wahrscheinlich nichts dran.

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Ich würde ♣ auch zustimmen. Der Erzähler ist vielleicht der Protagonist, weil wir aus seiner Perspektive miterleben, was ihm widerfahren ist, aber Lettie erfüllt viel mehr die Rolle der Heldin.

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Zum Protagonistendasein gehört meines Wissens nach, dass der Charakter sich weiterentwickelt bzw. etwas dazulernt. Das ist sowohl bei Lettie wie auch dem Jungen der Fall, deswegen würde ich zustimmen, dass die beiden ungefähr gleiches Potential zum Protagonisten haben.

♣:
Wie gesagt, ich habe das jetzt rein von der wissenschaftlichen Seite aufgerollt. Und nach Wulff gibt es den textfunktionalen und den ideologischen Helden. Der textfunktionale Held ist in dem Fall der Protagonist, dem die Geschichte folgt. Und es ist ja eindeutig, dass wir aus der Perspektive des Jungen lesen. Der ideologische Held wird wiederum nicht durch den Text definiert, sondern durch bestimmte Merkmale, also bestimmten charakterlichen Zuschreibungen. Er treibt die Handlung voran. Und - treibt unser Protagonist die Handlung voran?

♠:
Puh, das ist eine schwierige Frage. Da ich mich ja auch schon gefragt habe, worum es überhaupt geht … es ist so eine Wechselwirkung zwischen Charakter und Handlung.

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Er hat Letties Hand losgelassen und zum Schluss wird er aktiv, wenn er sich den Pickern ausliefern möchte. Aber eigentlich treibt er die Handlung tatsächlich kaum voran. Er reagiert mehr, als dass er agiert.

♣:
Ja, das stimmt. Er wird irgendwie von einem Ereignis ins nächste verwickelt. Da könnte man fast wieder auf der Metaebene interpretieren, was das zu bedeuten hat. Aber da er so zu Lettie aufsieht, würde ich fast sagen, sie ist die Heldin, spitz gesagt - seine Heldin.

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Das habe ich auch so gelesen. Er sieht zu ihr hoch und vertraut ihr. Wenn er in Schwierigkeiten ist, wünscht er sich Lettie herbei und nicht Gramma oder Ginnie.

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Das finde ich relativ logisch, eben weil Lettie ein ähnliches Alter hat. Erwachsene werden im Roman regelmäßig als die Einfältigen dargestellt. Gramma ist da zum Beispiel ganz anders, finde ich, und damit muss man auch erstmal klarkommen. Selbst der erwachsene Protagonist ist ein bisschen ratlos in ihrer Gegenwart.
»Erwachsene halten sich auf Wegen. Kinder gehen auf Kundschaft. Erwachsene begnügen sich damit, ausgetretenen Pfaden zu folgen, hundert- oder tausendmal; vielleicht fällt es ihnen einfach nicht ein, unter Rhododendren zu kriechen und die Lücke im Zaun zu finden.«
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Oh ja, Gramma ist eindeutig die Powerfrau in dem Roman! Generell gefällt mir das Frauenbild, das die Hempstocks verkörpern - Männer brauchen sie nur, wenn sie Männer zeugen wollen, ansonsten haben Gramma, Ginnie und Lettie Hempstock ohnehin alles bestens im Griff. Grammas seltsame Äußerungen haben mich oft zum Schmunzeln gebracht und den Roman zwischen seinen vielen ernsten Themen schön aufgelockert.

♣:
Es ist ja auch interessant, dass der Protagonist außer seinen Eltern und der Schwester keine Familie erwähnt - und hat? Und generell sind Großmütter ja immer Personen, an die man sich anlehnen kann und dadurch könnte man sie auch ein wenig als Weise betrachten, weil sie eben diejenige ist, die ständig einen intelligenten Spruch auf den Lippen hat.

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War da nicht eine Tante, die zu Beginn gestorben ist? Die wurde aber auch nur in einem Satz erwähnt.

♣:
Ja, aber eben auch gestorben. Der Protagonist und seine Familie wirken extrem isoliert. Außer zum Opalschürfer haben sie ja auch irgendwie keinen Kontakt. Die Familie Anders wird ja erst später erwähnt.

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Stimmt. Es werden noch Freundinnen von der Schwester erwähnt, aber ohne Namen oder weitere Beschreibungen. Und waren da nicht Mieter?

♣:
Ja, stimmt. Die haben mich an Die Verwandlung von Franz Kafka erinnert, in der es die Zimmerherren als Untermieter gibt. Soweit ich mich erinnere, haben bei Gaiman die Untermieter ja immer zwischenzeitlich im Zimmer des Protagonisten gewohnt, während dieser zu seiner Schwester ins Zimmer ziehen musste. Und irgendwann wohnte dann der Opalschürfer dort - bis er gestorben ist und Ursula das Zimmer bezogen hat.

Mit erfülltem Bildungsauftrag ziehen wir uns für diese Woche zurück. Schaut nächsten Samstag wieder rein, wenn es um die Sprache des Romans geht und um die knifflige Frage, an wen das Buch gerichtet ist!

Falls ihr die anderen Teile dieser Buchbesprechung noch nicht gelesen habt:
Teil 01: Inhalt/Vater und Verdrängung (02.06.2018)
Teil 02: Charaktere (09.06.2018)
Teil 03: Sprache (16.06.2018)
Teil 04: Was Autoren von Neil Gaiman lernen können/Fazit (23.06.2018)

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