Der Ozean am Ende der Straße: Worte und Wasser

Die Charaktere der Geschichte haben uns bereits viel Diskussionsstoff geboten. Aber auch sprachlich ist Neil Gaimans Werk ein ganz besonderer Hingucker und aus diesem Grund beschäftigen wir uns heute mit den kleinen sprachlichen Eigenheiten der Geschichte und vor allem auch mit der großen Frage, an welche Zielgruppe sich der Roman richtet. 


Das Lieblingszitat von  aus Der Ozean am Ende der Straße:
»Nichts ist je wieder, wie es einmal war [...] Ob nach einer Sekunde oder nach hundert Jahren. Alles gischtet und schäumt in einem fort. Auch Menschen verändern sich, genauso wie Ozeane.«
♣:
Was ich mich aber dann doch frage, da wir beim letzten Mal von Isolation gesprochen haben, an welche Zielgruppe richten sich die Bücher? Ich habe das Gefühl, die Sprache ist doch recht simpel und auch die Welt ist eher sehr begrenzt. Das wirkt eher wie ein Buch wie Kinder, aber gleichzeitig steckt darin so viel Tiefe.

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Ich glaube, es ist wie bei der Unendlichen Geschichte: Eigentlich richtet sich das Buch an Kinder, aber man kann es ohne Probleme als erwachsene Person lesen und liest es dadurch ganz anders. Dass die Sprache einfach gehalten ist, liegt meines Erachtens nach an Gaimans Schreibstil. Soweit ich mich erinnere, ist American Gods auch in einer relativ simplen Sprache verfasst.

♠:
Ich würde das Buch auf keinem Fall einem Kind in die Hände drücken. Die Szene im Badezimmer war trotz des Rumschnippelns sehr eindrücklich und beängstigend. Ich habe in einem Nebenjob mit Fünftklässlern zu tun, die kürzlich schon von einer Folge der Drei ??? enorm verängstigt waren … und das Buch legt eine Schippe drauf. Der Schreibstil ist meiner Meinung nach nicht simpel, sondern mit superschönen Details ausgeschmückt. Allein, dass sich Gaiman die Zeit nimmt, jedes Mal das Essen zu beschreiben, das der Protagonist bei den Hempstocks bekommt … (meiner Meinung nach ein Stilmittel für die Heimeligkeit im Kontrast zum eigenen Zuhause, nur mal nebenbei). Wenn ich mir da meine eigenen Texte anschaue, würde ich schon behaupten, dass mir solche Details fehlen. Oder anders ausgedrückt: Auch mit einfacher Sprache ist eine Menge Tiefe möglich. Gute Autoren schreiben meiner Meinung nach verständlich und wählen die effektivsten Worte.

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Eine gewisse Mehrfachadressiertheit (das war doch der Begriff, oder?) gibt es diesmal auch, denke ich, aber wie ♠ treffend beschreibt, wird das Missbrauchsthema bei diesem Roman doch expliziter dargestellt, trotz der einfachen Sprache. Auch die Anspielung auf das Fremdgehen und einige von Ursula Monktons Drohungen gegenüber dem Protagonisten fallen teilweise heftig aus. Also denke ich, dass ältere Kinder das Buch durchaus als Jugendbuch lesen können, aber den jüngeren würde ich es auch nicht zumuten.
Und ja, für seine sinnlichen Essensbeschreibungen bewundere ich Gaiman sehr - und dass sie noch so viel Symbolgehalt mit sich bringen, ist wieder ein sehr schöner Pluspunkt.

♠:
Bei der Unendlichen Geschichte waren die schwierigen Themen auch einen Hauch harmloser beziehungsweise subtiler. Da ging es teils um Depressionen, zum Beispiel bei Bastians Vater, aber nicht um extreme Handlungen. Ein Kind könnte über die Depression beispielsweise hinweg lesen und denken, der Vater sei einfach traurig oder sogar langweilig. Erwachsene können da mehr verstehen.

♣:
Wegen der Missbrauchsszene und vielen anderen sehr intensiven Szenen finde ich es auch sehr kritisch, das Buch einem Kind zu geben. Gleichzeitig hat mich das Buch aber so sehr an Romane aus meiner Kindheit erinnert, wenn es um die Art des Erzählens geht. Die Essensbeschreibungen würde ich nicht so lesen. Details sind zwar in der Erwachsenenliteratur eher verankert, aber ich finde, gerade Essen findet sich oft in der Kinder- und Jugendliteratur als thematisiertes Element. Und gerade das gibt dem Leser ja ein so gutes Gefühl - und das könnte Kinder mehr ansprechen. Bei Essensbeschreibungen muss ich immer sofort an die voll gedeckten Bücher aus der Harry Potter-Heptalogie denken. Und an Bilderbücher, in denen bunte Süßigkeiten vorkommen.

♠:
Es war teilweise schon sehr märchenhaft.

♣:
Ja, genau. Und die vielen schönen Zitate haben diesen Eindruck noch unterstrichen. Die sind ja alle sehr wunderlich und doch prägnant gehalten. Da stecken so viele kleine Botschaften drin.

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An Märchen hat mich der Stil des Romans auch erinnert. Und auch Märchen waren ja inhaltlich anfangs gar nicht für Kinder gedacht, sondern sind nur kindgerecht adaptiert worden.

♣:
Doch, sie waren als Schreckmärchen gedacht. Sie sollten dafür sorgen, dass Kinder sich wie Aschenputtel benehmen und nicht wie ihre bösen Stiefschwestern.

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Dann sagen wir es so: Die Vergewaltigungen und brutalen Szenen in den Originalmärchen würden wir zumindest heute nicht als Kinderliteratur einstufen. Generell gebe ich dir mit den vielen kleinen Botschaften in der Sprache aber Recht, Gaiman hat immer sehr treffende Metaphern und Vergleiche verwendet und den perfekten Erzählstil für eine solche Geschichte gefunden.

Zu diesem Zeitpunkt des Gesprächs versammeln sich die vier Kartenfarben in Skype, um über ostwestfälische Begriffe zu fabulieren. Gerne könnt ihr uns in die Kommentare schreiben, ob ihr das Wort »Blag« kennt. Nächste Woche geht es dann weiter mit unserer Besprechung, bei der wir dann darüber sprechen, was wir von Neil Gaiman lernen können, und zu unserem Fazit kommen.

Falls ihr die anderen Teile dieser Buchbesprechung noch nicht gelesen habt:
Teil 01: Inhalt/Vater und Verdrängung (02.06.2018)
Teil 02: Charaktere (09.06.2018)
Teil 03: Sprache (16.06.2018)
Teil 04: Was Autoren von Neil Gaiman lernen können/Fazit (23.06.2018)

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