Der Ozean am Ende der Straße: Väter und Verdrängung

Nachdem uns Die unendliche Geschichte von Michael Ende bereits bezaubern konnte, haben wir uns als nächsten Roman Der Ozean am Ende der Straße von Neil Gaiman vorgeknöpft und diesen wieder in vier Teilen besprochen. Heute geht es vor allem um die Doppelsinnigkeit der Geschichte, den Vater des Protagonisten und unsere ersten Eindrücke. Wir wünschen euch viel Spaß mit unserer neuen Buchbesprechung!


Das Lieblingszitat von ♠ aus Der Ozean am Ende der Straße:
Kindheitserinnerungen liegen manchmal unter den Dingen verborgen, die später passiert sind, wie Spielzeug, das vergessen auf dem Boden eines Kleiderschranks liegt, aber nie ganz verloren ist.
♠:
Ihr Lieben, schön, dass ihr wieder hier seid! Wir haben Der Ozean am Ende der Straße von Neil Gaiman gelesen, und ich für meinen Teil habe Redebedarf. Darum würde ich gerne mit folgender Frage starten: Worum ging es überhaupt?

♣:
Ich freue mich auch wieder, mit dabei zu sein und freue mich auf eine angeregte Diskussion. Um das Ganze erstmal simpel aufzurollen: In dem Buch ging es um einen verschlossenen Jungen, der einen Todesfall miterlebt und im Folgenden in magisch anmutende Ereignisse hineingezogen wird. Die Rahmenhandlung ist dabei allerdings, dass dieser Junge als Erwachsener wieder zum Ort seiner Kindheit zurückkehrt. Ich hatte ein bisschen das Gefühl, dass die Erzählung eine Metapher sein könnte.

♠:
Mich hat die Geschichte stellenweise nicht ganz abgeholt, weil manche Handlungen willkürlich erschienen. Und mir ging es auch so, dass ich die ganze Zeit nach der tieferen Botschaft gegraben habe und auch wissen wollte, welchen Zweck bestimmte Charaktere erfüllen. Damit meine ich vor allem die Hempstock-Familie, die durch und durch kurios ist, aber irgendwie liebenswert. Schlau bin ich aus ihnen nicht geworden. Aber zu den Charakteren kommen wir ja später.

♣:
Ich habe mir zwischendrin immer wieder die Frage gestellt, ob der die ganze Geschichte eine Art Verdrängungstaktik des Jungen sein könnte, der ja in so jungen Jahren einen Todesfall miterleben muss und nicht weiß, wie er damit umgehen soll. Viele der Handlungen können so ähnlich passiert sein und einfach durch seine Fantasie euphemisiert worden sein.

♠:
Dazu gibt es ja auch das schöne Zitat, dass sich keine zwei Erinnerungen gleichen (hat das jemand parat?)

♣:
»Die alte Dame rümpfte die Nase. ›Habe ich Ihnen nicht gesagt, dass sich keine zwei Leute über eine Erinnerung einig sind?‹, fragte sie.«

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»Verschiedene Leute erinnern sich an verschiedene Dinge, und es gibt keine zwei Menschen, deren Erinnerung an etwas übereinstimmt, ob sie nun dabei waren oder nicht. Wenn man zwei von ihresgleichen nebeneinanderstellt, könnten sie genauso gut Kontinente voneinander entfernt sein.«

♠:
Danke!

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Ich glaube, das Buch vereint sehr viele Themen, und man kann und soll viel in die Handlung hineininterpretieren. Ein sehr zentrales Thema war meiner Ansicht nach das Erwachsensein, beziehungsweise das Bild des Erwachsenen, das dem Kindheitserleben entgegengestellt wurde. Aber auch Missbrauch und Betrug, und wie sie sich auf die Kinder auswirken, haben eine Rolle gespielt. Ich habe auch gleich an eine Verdrängungstaktik gedacht, das dieses »in eine andere Welt flüchten« für viele Kinder ja darstellt, zum Beispiel durch Lesen - was der Protagonist ja sehr gerne tut.

:
Ich finde die Idee sehr interessant, dass das Erlebte gar nicht so passiert ist, sondern seiner Fantasie und/oder Einbildungskraft geschuldet ist. Es sind auf jeden Fall Hinweise darauf zu finden: Der Protagonist liest viel, wie schon sagte, und seine Eltern werden beschrieben, als würden sie ihn (emotional) missbrauchen, und das schon bevor die übernatürlichen Vorkommnisse beginnen. Zum Beispiel stirbt sein Kätzchen und er weiß, dass seine Eltern nicht verstehen würden, warum ihn das traurig macht, weswegen er gar nicht erst mit ihnen über seine Gefühle oder Probleme spricht.

♣:
Ja, das mit dem Missbrauch fand ich besonders faszinierend. Weil Gramma diesen Teil der Geschichte ja »rausschnippelt und stopft« und der Junge sich dennoch daran erinnert. Das fand ich sehr interessant und kritisch, immerhin erinnert sich der Vater ja wiederum nicht daran und kann es deshalb nicht reflektieren. Vor allem hatte Ursula ja auch gesagt, dass der Vater von sich aus so gehandelt hat. Geht es hier also um eine Vater-Sohn-Problematik? Im Grunde beginnt ja bereits alles damit, wenn man allein an die Toast-Szene denkt.

♠:
Toast-Szene?

♣:
Dass der Vater ihm verbranntes Brot gibt und nicht jenes, welches sein Sohn lieber haben würde.

♠:
Ach so! Ich hab vor allem die Badewannen-Szene im Gedächtnis behalten, da ist mir richtig übel geworden.

♣:
Genau die Szene meinte ich mit dem Missbrauch.

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Das mit dem Missbrauch wurde meiner Meinung nach im Buch nicht ideal gelöst und etwas zu sehr unter den Tisch gekehrt. Die Lösung, die Szene, in der er seinen Sohn fast ertränkt, einfach rauszuschnippeln, ist ja sehr schön, aber zu einfach für so ein komplexes Buch. Eigentlich habe ich erwartet, dass das später weiter thematisiert wird, denn ich habe es auch so empfunden wie ihr, dass die Vater-Sohn-Thematik eine Schlüsselrolle gespielt hat, auch für das Verhalten des Protagonisten. Und so eine Gewaltszene einfach »ungeschehen zu machen«, ist nicht so einfach, Spuren in der Erinnerung des Jungen hat sie ja trotzdem hinterlassen. Dieser Konflikt wurde für mich unbefriedigend gelöst.

♣:
Das empfand ich ganz genauso. Das »Rausschnippeln« an sich ist ja eine interessante Thematik, aber wie sie von Gaiman eingebaut wurde, hätte besser gelöst werden können.

♠:
Aber ist das Rausschnippeln nicht auch ein Zeichen für Verdrängung?

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Das stimmt auch wieder, als Metapher für Verdrängung passt es auf jeden Fall. Verdrängen ist auch eine nachvollziehbare Reaktion, nur aus Lesersicht hätte ich mir irgendwie eine tiefere Beschäftigung mit der Thematik gewünscht.

♣:
Ja, ganz genau. Das Verdrängen an sich passt da wirklich wie die Faust aufs Auge. Ich habe eh schon vermutet, dass allein die Erinnerungen an sich ein Verdrängen sein könnten - das »Rausschnippeln« treibt das noch auf die Spitze.

Ihr ahnt es bereits und ihr habt Recht: Nachdem wir uns nun schon mit dem Vater des Protagonisten beschäftigt haben, dringen wir in unserem nächsten Beitrag noch tiefer in die Materie ein und besprechen in vollen Zügen auch die anderen auftretenden Charaktere. Wir freuen uns, wenn ihr nächste Woche wieder vorbeischaut.

Falls ihr die anderen Teile dieser Buchbesprechung noch nicht gelesen habt:
Teil 01: Inhalt/Vater und Verdrängung (02.06.2018)
Teil 02: Charaktere (09.06.2018)
Teil 03: Sprache (16.06.2018)
Teil 04: Was Autoren von Neil Gaiman lernen können/Fazit (23.06.2018)

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